Re: Ein Märchenbuch für Svenja
von chilidingens » Mi 10. Jun 2009, 23:54
Vom Esel, der kein Kaninchen war und auch kein Huhn
An einem heißen Sommertag trottete ein kleiner Esel über die staubige Landstraße. Er war traurig, denn er fühlte sich einsam und alleine. Wo er auch hinkam, wen er auch traf, niemand schien ihn zu mögen. Seine Mutter nannte ihn zwar Bruno, aber alle anderen hießen ihn einen Esel, und das war nun wirklich nicht nett. Sie kannten ihn doch gar nicht, warum also beleidigten sie ihn? Und wenn er sich darüber beschwerte, sahen sie ihn nur erstaunt an und sagten: „Aber du bist doch ein Esel!“
Darum trottete er also über die staubige Landstraße an diesem heißen Sommertag, weil er den einen Freund suchen wollte, der ihn mochte und nicht gleich einen Esel nannte.
„Irgendwo gibt es einen Freund für mich“, murmelte er. „Einen einzigen nur, dann will ich zufrieden sein. Oder vielleicht eine Gute Fee, die mir sagt, wo ich meinen Freund finden kann. Auf Landstraßen stehen überall Gute Feen herum, habe ich gehört.“
Es war aber keine Gute Fee weit und breit zu sehen, nur ein kleines graues Tier saß am Wegesrand und putzte seine langen Ohren.
„Guten Tag“, sagte der kleine Esel, „ich bin ein Bruno und suche einen Freund. Und wer bist du?“
„Du bist kein Bruno“, sagte das kleine Tier. „Das ist nur dein Name! Du bist ein Esel. Und ich bin ein Kaninchen.“
Dann hoppelte es weg, weil Kaninchen nie lange an einem Ort bleiben.
„Schade“, sagte Bruno, „es sah so nett aus mit seinem grauen Fell und den langen Ohren, und dabei ist es auch nur wie alle anderen.“
Während er traurig weiter ging, klangen die Worte in seinen Ohren nach: ‚Graues Fell, lange Ohren. Graues Fell, lange Ohren.’
„Aber natürlich!“, rief er aus. „Genau wie ich! Ganz genau wie ich. Ja, ich heiße Bruno und bin ein Kaninchen!“
Nun war er nicht mehr traurig, sondern richtig froh, und er trottete auch nicht mehr die Straße entlang. Nein, jetzt hüpfte und hoppelte er gerade so, wie er es bei dem anderen Kaninchen gesehen hatte. Viel Hüpfen und Hoppeln macht hungrig, da war es nur gut, dass er an einem Garten vorbei kam. Darin blühten Blumen über Blumen in allen Farben, und sie nickten mit den Köpfen im Sommerwind. Vor allem aber gab es ein Beet mit frischem, saftigem Salat, darum ging Bruno einfach hinein und ließ es sich schmecken. Er hatte das Beet erst zur Hälfte leer gefressen, als hinter ihm eine Stimme sagte: „Ordentliche Leute fragen vorher. Das macht man so, wenn man einen fremden Garten leer fressen will.“
Bruno drehte sich erschrocken um. Ein knallroter Bär stand da, und weil der ganz freundlich aussah, schluckte Bruno schnell hinunter und sagte dann mutig: „Entschuldige bitte, ich wusste ja nicht, dass der Garten jemandem gehört. Hättest du vielleicht ein kleines Blättchen Salat übrig für ein hungriges Kaninchen?“
„Sicher“, antwortet der Bär. „Wo ist es denn?“
„Aber ich bin doch das Kaninchen! Siehst du nicht mein graues Fell und die langen Ohren? Und sieh doch nur, wie ich hoppeln kann!“
„Das sehe ich wohl, aber ich denke doch, du bist ein Esel“, sagte der Bär.
„Ach, ich dachte schon fast, du wärst nett, dabei bist du genau wie alle anderen!“, rief Bruno und rannte enttäuscht weg. Weil er sich aber in dem Garten nicht auskannte, lief er geradewegs gegen eine kleine Mauer, auf der ein Berg frisch gewaschener Kissen zum Trocknen lag. Die meisten Kissen nahmen ihm das nicht übel, aber eines platzte auf und die Federn flogen, dass man glauben konnte, es würde schneien. Überall rund um sich herum sah Bruno nur noch Federn, und vor lauter Schreck schrie er laut I-A.
So laut schrie er, dass er damit den Hahn in Nachbars Garten aus seinem Mittagsschläfchen aufweckte. Und wenn so ein Hahn aufwacht, muss er krähen. Das war ein Heidenspektakel, als der eine I-A schrie und der andere Kikeriki, und auch die Hühner stimmten in den Lärm mit ein und gackerten, was sie nur konnten.
Und dann rannten sie alle zum Zaun; der eine auf der Bärenseite und die anderen auf der Nachbarseite, um nachzusehen, wer denn da solchen Krach machte.
„Ach!“, sagte Bruno, als er den Hühnerhof sah. „Ach, sieh mal einer an. Was mögen das wohl für Tiere sein, die fast genauso schön singen können wie ich?“
„Das sind doch Hühner“, sagte hinter ihm der knallrote Bär. „Sie legen Eier, sie gackern eine Weile, und dann brüten sie die Eier aus.“ Bruno drehte sich zu ihm um und bemerkte dabei, dass etwas ganz Erstaunliches geschehen war: auf seinem Rücken wuchsen Federn, viele weiße Hühnerfedern!
„Ach!“, sagte er wieder. „Alles klar, jetzt weiß ich Bescheid. Ich bin nicht Bruno, das Kaninchen. Nein, ich bin Bruno, das Huhn! Dann will ich mal brüten und gackern gehen, denn das tun wir Hühner dauernd.“
Elegant wie ein Kaninchen sprang er über den Zaun, mitten in den Hühnerhof. Entsetzt rannten alle Hühner davon, denn so ein großes Huhn hatten sie noch nie gesehen. Vor allem keines mit so langen Ohren. Nur der Hahn hielt tapfer aus und sah deshalb als einziger, wie Bruno ein Nest voller Eier fand und sich einfach darauf setzte. Da schrie der Hahn noch lauter als vorher.
„Aber was tust du denn da!“, schrie er. „Du bist doch kein Huhn, du bist ein Esel, und jetzt hast du alle Eier zerbrochen!“
„Ich bin ein sehr schönes Huhn im weißen Federkleid“, antwortete Bruno gekränkt, „aber du bist genau wie alle anderen. Wenn du mich so beleidigst, gehe ich eben und suche mir einen neuen Hühnerhof, wo man freundlicher zu mir ist und sich zu benehmen weiß.“
Weil aber gerade kein anderer Hühnerhof da war, sprang Bruno eben wieder zurück in den Bärengarten. Der knallrote Bär hatte ihn zwar auch einen Esel genannt, aber wenigstens schrie er ihn nicht so furchtbar an wie der Hahn. Er brachte ihn sogar zu einem Teich voller Wasser. Das war nun sehr freundlich von dem Bären, denn vom Brüten hatte Bruno ein gelbes Hinterteil bekommen. Darum stieg er in den Teich und fing an, das Eigelb abzuwaschen.
Das Wasser war schön kühl und erfrischend an seinen Füßen, und das gefiel ihm, denn Brüten macht nicht nur dreckig, es ist auch anstrengend.
Bruno platschte ein wenig hin in seiner Badewanne, dann planschte er ein wenig her, und als er wieder sauber war, meinte er: „Hier geht es mir so richtig gut. Ich glaube fast, ich wurde dazu geboren, im Wasser zu leben. Wie nennt man nur ein Wassertier mit weißen Federn?“
Der Bär kratzte sich am Kopf und überlegte.
„Was du meinst, ist ein Schwan.“
„Das ist es“, sagte Bruno und machte mit den Füßen schöne hohe Wellen. „Ein Schwan. Genau das bin ich: Ein Schwan im weißen Federkleid!“
Wieder kratzte der Bär sich am Kopf. Dann kratzte er sich noch ein wenig am Bauch und meinte: „Das solltest du dir vielleicht noch einmal überlegen. Denn weißt du, die Federn sind beim Baden alle abgegangen. Sie waren wohl nicht richtig fest gewachsen.“
Bruno verdrehte den Kopf und betrachtete seinen Rücken. Da war kein Weiß mehr, nur noch Grau.
Er blieb ganz still stehen und dachte nach. Wenn er kein Schwan war, was war er dann? Und weil er still stand, blieb auch das Wasser stehen und zeigte ihm sein Spiegelbild. Was Bruno sah, war ein graues Tier mit langen Ohren und großen Zähnen. Er dachte noch ein bisschen länger nach und meinte dann: „Kein Schwan also, aber ein Wassertier. Ganz bestimmt ein Wassertier, denn ich fühle mich wohl im Wasser. Klarer Fall, ich muss eine Art Fisch sein.“
Und er fragte den Bären: „Welcher Fisch ist grau und hat ganz viele, ganz große Zähne?“
„Ein Hai ist grau“, antwortete der Bär geduldig, denn er fand Bruno ganz lustig, auch wenn er ein Esel war. „Und viele Zähne hat er auch. Große, gefährliche Zähne.“
„Dann nimm dich besser in Acht vor mir“, sagte Bruno und fletschte seine Haifischzähne, „Ich bin ein Hai und könnte dich fressen!“
„Das sehe ich“, lachte der Bär, „und ich habe schon gewaltige Angst vor dir. Aber atmet ein Hai nicht unter Wasser?“
„Wir Haie atmen, wo wir wollen“, sagte Bruno. „Am liebsten atmen wir unter Wasser, weil Fische das nun mal so machen.“
Er steckte seine Schnauze tief in das Wasser und prustete, bis lauter kleine Blubberbläschen ihn an der Nase kitzelten.
„Siehst du? So atmen wir Fische unter Wasser!“
„Das war so richtig nach Haifischart ausgeatmet“, sagte der knallrote Bär. „Aber was ist mit Einatmen?“
Bruno senkte seine Schnauze wieder in das Wasser. Er atmete ein und verschluckte sich ganz fürchterlich.
Hustend und spuckend sprang er aus dem Teich heraus. Er rannte tiefer in den Garten und hustete so lange, bis er ausgehustet hatte und wieder einatmen konnte.
„Natürlich bin ich kein Haifisch“, meinte er dann. „Ich wusste das schon immer, aber der Bär ist doch glatt darauf reingefallen.“
Er lehnte sich an einen Kirschbaum und sah nach oben.
„Vielleicht sollte ich mal versuchen, eine Giraffe zu sein“, sagte er. „Dann könnte ich Kirschen zum Frühstück essen.“
"Untersteh dich!“, rief der Bär, der ihm nachgegangen war. „Die Kirschen gehören dem Elefanten, der unter dem Kirschbaum wohnt. Und der Elefant teilt nicht gerne sein Essen mit Fischen.“
Ein Elefant? Bruno drehte sich dreimal um sich selber. Tatsächlich, da lehnte ein großer grauer Elefant am Baum und pflückte Kirschen mit seinem Rüssel.
„Großer grauer Elefant mit Riesenohren“, brummelte Bruno. „Vor allem grau mit Ohren!“
Laut fragte er: „Würde der Elefant aber mit einem kleinen Elefanten teilen? Ich wüsste da einen, der ist auf jeden Fall grau, und Ohren hat er auch!“
„Aber wo hat der kleine Elefant nur seinen Rüssel gelassen?“, fragte der Bär und sah Bruno fest in die Augen.
„Lieber Bruno, glaub mir doch, du bist und bleibst ein Esel!“
„Und du bist gemein“, rief Bruno ganz enttäuscht. „Dabei habe ich schon fast gedacht, du wärst mein Freund, und jetzt nennst du mich doch wieder einen Esel!“
Und wieder rannte er davon, hinaus aus dem Garten und zurück auf die staubige Straße. Weit entfernt hörte er noch, wie der Bär ihm etwas nachrief. „Ich wäre gerne dein Freund, kleiner Esel. Komm mich wieder besuchen, wenn du magst.“ Und dann rief der Bär noch: „Zur Guten Fee geht es links rum!“, aber das hörte Bruno schon fast nicht mehr.
Er trottete weiter und weiter weg von dem schönen Garten und hielt die Schnauze tief gesenkt vor lauter Kummer. In dem schönen Garten wäre er so gerne geblieben, denn dort gab es alles, was er gerne mochte. Blumen hatte er dort gefunden und einen Teich zum Baden, frischen Salat und beinahe einen Freund. Aber auch in diesem Garten nannten alle ihn einen Esel, und jetzt fühlte er sich noch viel einsamer als vorher.
„Ach ja“, seufzte er traurig und wollte gerade anfangen zu jammern, als er mit der Schnauze gegen etwas stieß.
Eine Frau stand vor ihm, und er wusste sofort, dass sie die Gute Fee sein musste. Zwar hatte sie kein schönes blaues Kleid an, sondern ein altes, verwaschenes Hemd, aber das war immerhin blau. Und sie hatte keinen Zauberstab in der Hand mit einem Stern an der Spitze, wie es sich für eine ordentliche Gute Fee gehört, aber ihr knorriger Spazierstock hatte einen Knauf, und das konnte durchaus als Zauberstab gelten. Bruno hatte immer gedacht, eine Gute Fee müsse jung und wunderschön sein, und auch das war diese Frau nicht. Aber wer immer auf staubigen Landstraßen herumsteht und auf Leute wartet, die Hilfe brauchen, der ist eben braun gebrannt und ein klein wenig dreckig.
Die Frau beugte sich zu Bruno hinunter und kraulte ihn hinter den Ohren. „Kann ich dir helfen, mein Kleiner?“, fragte sie.
Kein Zweifel, sie war die Gute Fee!
‚Sie hat nicht Esel zu mir gesagt!’, dachte Bruno. ‚Sie krault mir die Ohren und sagt NICHT Esel! Die Gute Fee wird mir helfen.’
Und er erzählte ihr seinen ganzen Kummer. Alles auf einmal erzählte er und im Zickzack und dann noch mal nacheinander, damit sie auch ja verstand, was für große Sorgen er hatte.
„Darum trotte ich an einem heißen Sommertag über die staubige Landstraße und suche den einen Freund, der mich nicht Esel nennt“, sagte er zum Schluss.
„Bitte, was hast du grade gesagt?“, fragte die Fee.
„Ich trotte an einem heißen . . .“
Weiter kam er nicht, weil die Fee ihn unterbrach.
„Da haben wir es ja!“, rief sie und schwenkte ihren Spazierstock durch die Luft. „Deine Probleme sind gelöst! Du bist ein Trottel!“
Bruno war glücklich. Endlich war er so richtig glücklich. Er bedankte sich fünfmal bei der Guten Fee und rannte dann los, zurück zu dem Garten und seinem Freund, dem Bären.
Unterwegs sang er fröhlich vor sich hin.
„Ich bin ein Trottel!“, sang er. „Ich bin kein Esel, nein. Ich bin ein Trottel!“
Und damit hatte er endlich mal Recht.